„Und irgendwo dazwischen: Ich, auf diesem Staubkorn, genannt
Erde.“
(Nevfel Cumart)
Ich habe dieses Zitat aus einem Gedicht des Lyrikers Nevfel Cumart gewählt, weil es meines Erachtens eine Brücke zwischen der vorherigen Preisträgerin des Goldenen Lotes und unserem diesjährigen Ehrengast Dr. Jörn Lauterjung herstellt. Cumart, der als einer der produktivsten Lyriker der jüngeren Generation gilt, verarbeitet er in seinen Gedichten u. a. die Situation der Ausländer in Deutschland. Hier ist er in seinem künstlerischen Schaffen der Vorjahrespreisträgerin Amelie Deuflhard und den Kunstprojekten auf Kampnagel sehr nahe. Weitere Schwerpunkte von Cumarts poetischem Schaffen finden sich aber auch in anderen Ereignissen aus seinem Leben. Besonders aufwühlend war meines Erachtens die lyrische Schilderung des verheerenden Tsunami 2004, dessen Verwüstungen Cumart mit seiner Familie auf Sri Lanka ansehen musste. Und hier sind wir dann bei unserem heutigen Preisträger.
Dass unsere Welt sehr fragil ist, wissen wir alle. Nicht wenige von Ihnen
werden sich noch an die Vorträge hier beim Goldenen Lot von Ulf Merbold
erinnern, der unseren Planeten aus einer ganz anderen Perspektive betrachten
durfte. Die Zerbrechlichkeit unserer Welt gilt natürlich zum einen ganz profan
aus geologischer Sicht, zum anderen aber auch gesellschaftlich.
Die Schlagworte dazu lauten Reformation und/oder Toleranz und die entsprechende
Frage dazu: Leben wir in einem neuen reformatorischen Zeitalter?
Um es kurz zu machen: Ja! Ähnlich wie Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts leben wir aktuell in einer Phase umfassender technologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Umbrüche. Beispiele hierfür sind Globalisierung, Digitalisierung oder auch die massiven Flüchtlingsbewegungen weltweit.
Diese Umbrüche stellen unser Selbstbild als Menschen sowie unser Selbstverständnis als Gesellschaft infrage. Und die Grundverfasstheit unserer Gesellschaft macht die aktuelle Diskussion außerordentlich schwierig. Selten war so viel von Wertewandel, Werteverlust und Orientierungslosigkeit die Rede wie heute. Glaubte man denen, die so reden, stünde es tatsächlich schlecht um unsere Gesellschaft, taumelte diese ihrer Selbstauflösung entgegen, zumindest aber einem Zustand, in dem die alten Orientierungen nicht mehr halten und neue nicht in Sicht sind, in dem die alten Werte nicht mehr gelten und neue kein gesellschaftliches Glück versprechen.
Was aber sind die Kennzeichen einer moralischen und zugleich toleranten Reformation? Welche Impulse lassen sich aus historischen Erfahrungen wie der Reformationsperiode daraus ziehen? Und wie kann den Ängsten, die diesen Transformationsprozessen gegenüberstehen, begegnet werden?
Der Philosoph Karl Popper hat dazu vom Trauma des Übergangs aus der Stammes- oder „geschlossenen Gesellschaftsordnung“, die magischen Kräften unterworfen ist, zur „offenen Gesellschaftsordnung“, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen freisetzt, geschrieben. Freiheit kann ungemütlich werden, kann Angst machen, kann Menschen überfordern und die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine geschlossene Gesellschaft nähren, die alle ihre Kraft dazu verwendet und verschwendet, sich nach außen abzuriegeln.
Der Schock dieses Übergangs von der geschlossenen in die offene Gesellschaft ist, so Poppers Vermutung, der entscheidende Faktor, der immer wieder jene reaktionären Bewegungen ermöglicht, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr der Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Wer meint, das Böse sei ein für alle Mal überwunden, weil doch jeder Vernünftige einsehen müsse, dass und wie er von einer offenen Welt profitiere, in der er nach seinen Wünschen leben, frei sein und reich werden kann, und dass jedermann schon aus purem Egoismus diese Freiheitsrechte allen anderen ebenfalls zubilligen müsste, sieht sich getäuscht.
„Und irgendwo dazwischen: Ich, auf diesem Staubkorn, genannt Erde“.
Eine fragile Welt also. Soziologisch habe ich das Thema jetzt nur kurz anreißen können. Lyrisch hat – wie bereits erwähnt – Nevfel Cumart das Thema aufgegriffen, bliebe also noch die naturwissenschaftliche Sicht.
Themen hierzu gibt es en masse: So bringt beispielsweise der Klimawandel als menschengemachte Naturkatastrophe neue Herausforderungen für unsere Gesellschaft mit sich. Wir müssen uns damit auseinandersetzen und wir müssen unsere Lebensweise verändern. Wir haben es hier mit einer großen sozialen und kulturellen Transformation zu tun, die man vergleichen kann mit der Phase der Industrialisierung, als fossile Energien in den Mittelpunkt traten und sich ein Gesellschaftsmodell einstellte, was wir als Carbon Society – als eine Gesellschaft, die im Wesentlichen auf der Verbrennung dieser Rohstoffe beruhte – bezeichnen. Zweifellos werden wir in diesem Kontext über einen Wertewandel in unserer Gesellschaft nachdenken müssen.
Die globalisierte Gesellschaft vergisst nur allzu gern, wie fragil unser System Erde ist und wie leicht es durch Naturkatastrophen getroffen werden kann. Allein tragische Ereignisse machen diese Verwundbarkeit immer wieder bewusst – wie beispielsweise der Tsunami im Indischen Ozean an Weihnachten 2004: Es war eine der größten Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts und begann am Morgen des 26. Dezember 2004 nahe der Insel Simeuluë im indischen Ozean: In 30 Kilometern Tiefe gab es ein gewaltiges Erdbeben mit einer Magnitude von 9,3. Es war das drittstärkste aller bislang registrierten Beben. Auf einer Länge von 1200 Kilometern kam es zu enormen Verwerfungen und unvorstellbare Wassermassen gerieten in Bewegung. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 800 Kilometer pro Stunde schoben sich Billionen Tonnen Wasser kaskadenartig gegen die Küste und vernichteten Häuser, Dörfer und Städte. Mehr als 250.000 Menschen in vierzehn Ländern verloren ihr Leben, 5 Millionen Menschen bedurften der sofortigen Hilfe und 1,8 Millionen wurden obdachlos. Im Osten des Epizentrums wurden Indonesien, Malaysia und Thailand ohne Vorwarnung von den Wassermassen getroffen – im Westen erreichten die Flutwellen Sri Lanka und Indien, überspülten die Malediven. Ihre zerstörerische Kraft reichte bis nach Somalia. Gut sechs Stunden brauchte das Wasser vom ersten Beben bis an die afrikanische Küste. Zeit genug, die Menschen zu warnen, sollte man meinen. Doch weil es kein funktionierendes Warnsystem gab, weder eingeübte Notfallpläne noch trainierte Katastrophenschützer, rissen die Fluten die Menschen auch Stunden nach dem ersten Beben ahnungslos in den Tod. Seither ist der Begriff Tsunami in der Weltöffentlichkeit zum Synonym für Schrecken geworden.
Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft reagierten mit sofortiger Unterstützung. Über die sofortige Flutopferhilfe hinausgehend, erteilte die Bundesregierung der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren unter Federführung des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ den Auftrag zur Entwicklung eines Tsunami-Frühwarnsystems für den Indischen Ozean. Zum Projektkoordinator dieses „German-Indonesian Tsunami Early Warning System (GITEWS)“ wurde Dr. Jörn Lauterjung bestellt.
Aufgrund der besonderen Bedingungen Indonesiens mit seinen extrem kurzen Vorwarnzeiten konnte das Projektteam nur bedingt auf die Erfahrungen bisher existierender Frühwarnsysteme zurückgreifen Letztlich führte diese Herausforderung zur Entwicklung eines der modernsten Tsunami-Warnsysteme der Welt. Für seine herausragenden Aktivitäten im Rahmen der Projektkoordination zur Entwicklung des Tsunami-Frühwarnsystems im Indischen Ozean wird Dr. Jörn Lauterjung heute, stellvertretend für sein gesamtes Team, vom Verband Deutscher Vermessungsingenieure (VDV) mit dem GOLDENEN LOT ausgezeichnet.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser besonderen Auszeichnung!