Wenn man den globalen Nachrichten folgt, sucht man darin derzeit vergeblich schöne, optimistische Szenarien. Es steht außer Frage, dass wir in fordernden Zeiten leben. Klimawandel, Pandemie, Krieg in der Ukraine. Ein Thema jagt das nächste. Tiefe Einschnitte, die die nächsten Jahre prägen werden, sind bereits passiert. Wissen Sie jetzt noch, wo oben und unten ist? Oder fühlen auch Sie sich durchgewirbelt von den sich überschlagenden Ereignissen? Um es metaphorisch auszudrücken: wir scheinen in einem negativen Strudel zu stecken. Ausgelöst durch ein Trauma, einer massiven Überreizung, reißt uns der Wirbel aus dem gewohnten täglichen Flow.
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil es jetzt darum geht, den Gegenwirbel zu entdecken. Darauf müssen wir uns konzentrieren, denn wir werden Zukunftsmut, Flexibilität und Handlungsfähigkeit nicht wiedererlangen, indem wir in Schockstarre verharren.
Präsenz, Identität und systemisches Denken können uns dabei helfen. Wissen ist immer begrenzt, das zeigen diese turbulenten Zeiten nur zu deutlich. Wenn die Preise für Energie und Baumaterialien durch die Decke gehen, wenn unsere angestrebte E-Mobilität und Solarstromerzeugung am Nickel-Nachschub für Batterien zu scheitern droht, wenn Getreide im Norden Afrikas knapp wird, dann werden die Abhängigkeiten deutlich. Es treten wechselseitige Abhängigkeiten und Zusammenhänge zutage, die laut dem Netzwerkforscher Harald Katzmaier „too big to know” sind: Kaum jemand vermag all das noch für sich zusammenzubringen und zu verstehen.
Wir müssen uns der Zukunft also neu nähern. Wie geht es weiter? Welche Schritte können wir setzen?
Zukunft wird durch Entscheidungen gemacht, das gilt für Individuen wie für Organisationen. Bewusst und konsequent getroffene Entscheidungen ändern unsere Pfade und starten neue Kapitel im Leben. Sie erschließen neue Möglichkeitsräume. Hinzu kommt, dass unsere ständig vorhandene Konnektivität bewirkt, dass Innovationen vermehrt an Schnittstellen bzw. in der Kombination bisher unverbundener Themenkomplexe stattfinden. Das verlangt über Systemgrenzen hinweg eine effektive Zusammenarbeit und einen effizienten Austausch von Wissen. Manche Dinge brauchen ihre Zeit, aber wir alle wissen spätestens seit Corona, dass jedes exponentielle Wachstum anfangs etwas Zeit braucht, ehe dann plötzlich und scheinbar von heute auf morgen ein disruptives Potenzial offenbart wird.
Fachlich isolierte Einzelinnovationen sind heutzutage eher die Ausnahme. Veränderungen vollziehen sich immer auch umfassend. Sie betreffen verschiedene soziale, technologische und selbstverständlich auch ökonomische Bereiche. Sie finden außerdem oftmals auf mehreren Ebenen parallel statt. Im Grunde fokussieren alle Transformationen vor allem auf veränderte Zustände und weniger auf die Prozesse, die das Erreichen dieser Zustände produktiv vorantreiben. Doch Transformationen werden erst lebendig durch Transitionen und Zukunft lebt von gelungenen Übergängen. Komplexe Innovations- und Wandlungsprozesse zu initiieren, zu koordinieren und aufrechtzuerhalten, wird deshalb zu einer immer anspruchsvolleren Aufgabe. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Als Individuum, als Berufsverband und als Gesellschaft.
Und um auf mein Eingangsbild des negativen, alles in sich aufsaugenden Strudels zurückzukommen: Als Ingenieur und naturwissenschaftlich orientierter Mensch bin ich überzeugt davon, dass wir unsere Aufmerksamkeit dem Gegenwirbel schenken müssen. Wir wissen, dass der negative Sog da ist, daran können wir nichts ändern. Wir können uns aber entscheiden, ein Zentrum des positiven Gegenwirbels zu bilden. Was wir dazu brauchen, haben wir als Ingenieurinnen und Ingenieur doch alle vorliegen: Ein Verständnis für Zusammenhänge — nennen wir es systemisches Denken. Ebenso eine gute Präsenz — denn das Hier und Jetzt ist immer der Ausgangspunkt der Zukunft. Was wir dafür am meisten brauchen, sind Menschen um uns, die gemeinsam mit uns „nach vorne” denken wollen. Lassen Sie uns in diesem Sinne also einen konstruktiven Zukunftswirbel erzeugen. Es ist Zeit!
Meint Ihr
Wilfried Grunau