Im Diskurs über aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen sollten auch wir Geodäten Stellung beziehen. Aber wie werden wir diesem Anspruch gerecht? Dies kann in einem Editorial sicherlich nicht vollständig und umfassend beantwortet werden. Gleichwohl habe ich den Titel bewusst gewählt und als verbindendes Element eine weitere, von der Grundbedeutung her eher trennende, Begrifflichkeit hinzugefügt: Grenzen.
Welche Funktion haben Grenzen normalerweise? Für uns Geodäten wohl lediglich eine Fachfrage mit der pragmatischen Antwort: Grenzen strukturieren. Sie geben beispielsweise der politischen Landkarte eine Struktur. Es gibt auf der Landmasse der Erde zwischen den Staaten, rechtlich gesehen, kein Niemandsland mehr. Dort verlaufen nur noch Grenzen. Sie trennen erst einmal – je nach Region, je nach politischer Situation mehr oder weniger grob – zwei Völker, zwei Länder, zwei Sprachen, oft auch ein Volk, ein Land, bisweilen sogar ein Dorf oder ein Haus. Manchmal ist das absurd, manchmal erschreckend, oft tragisch, manchmal einfach sicherer – fast immer aber ist es auch faszinierend. Vielleicht liegt das daran, dass Grenzen Anfang und Ende zugleich darstellen. Manche politische Grenzen waren bis vor kurzem im Verschwinden begriffen, einige hingegen werden in neuerer Zeit, zumindest temporär, wieder sichtbar und kaum überwindbar wiederhergestellt. Aber selbst wenn Staatsgrenzen durchlässig werden und ihre politische Funktion langsam verlieren, wird etwas lange bleiben: Grenzen sind, auch wenn sie nicht immer die Trennschärfe politischer Demarkationslinien besitzen, aus historischen Gründen meist mehrdimensional. Sie teilen Sprachräume, sie teilen Religionsräume; und stabilisieren sie manchmal dadurch – aber eben nicht immer. Grenzen sollen Konflikte verhindern; gleichzeitig sind sie aber auch immer wieder Konfliktorte, weil sie Anknüpfungspunkte sind: für Überschreitungen und Auseinandersetzungen, für Neuanfänge und Melangen. Insgesamt erscheint mir die Rede vom Verschwinden der Grenzen, gerade mit Blick auf die momentane politische Weltlage, in vielerlei Hinsicht manchmal doch zweifelhaft. Denn neben der wechselseitigen Bedingtheit von Grenzöffnung und -schließung tragen Grenzen auch grundsätzlich die Ambivalenz von Eingrenzung einerseits und Ab- beziehungsweise Ausgrenzung andererseits in sich: Eingrenzung rekurriert auf das Eigene, auf „Wir hier“, auf Zugehörigkeitsgefühl, Vertraut- und Geborgenheit. Abgrenzung hingegen verweist auf das Fremde, auf das Andere. Diese Ambivalenz von Grenzen ist ein wichtiger, wenn auch selten bewusster Ordnungsrahmen, der als konstitutives Element von Identität fungiert.
Indem der Verband Deutscher Vermessungsingenieure (VDV) in diesem Jahr mit Amelie Deuflhard die Theaterproduzentin, Intendantin und künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg mit dem GOLDENEN LOT auszeichnet, möchte der Verband einen Schwerpunkt setzen und eine Orientierung liefern und damit eine Neu- und Andersbeschreibung einer Situation anbieten, die in Deutschland und Europa aktuell von vielen Menschen als sehr kritisch und bedrängend empfunden wird. Und tatsächlich ist die Flüchtlingskrise, die jetzt etwas mehr als ein Jahr alt ist, eine Situation, in der wir alle neu über die Zukunft Europas und unserer Gesellschaft nachdenken können und müssen. Der VDV würdigt mit der diesjährigen Auszeichnung insbesondere das Aufgreifen und konkrete Umsetzen aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen in einen kulturellen Dialog. Selbstreflexion, Sprachreflexion und die Überprüfung der eigenen Werte: All das kann die Kunst leisten. Und sie kann in diesem Kontext damit durchaus auch analytisch werden, quasi die Zeit anhalten und Räume eröffnen. Amelie Deuflhard hat durch ihre Initiative mit den Mitteln der Kunst auf eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme Europas aufmerksam gemacht und den Menschen am Beispiel des Aktionsraumes für Flüchtlinge (Ecofavela Lampedusa Nord) einen grenzenlosen Spiegel vorgehalten.
Es ist tatsächlich nicht leicht, den Überblick zu behalten und die oberflächlichen von den tieferen Umwälzungen zu unterscheiden. Über manche plötzlichen Ereignisse geht der große Strom der Kontinuität hinweg, während bedeutsame Umbrüche sich häufig in vielen kleinen Schritten vollziehen, deren richtungsändernde Wirkung erst mit Abstand erkennbar wird. Das macht einen Teil unserer derzeitigen Unsicherheit aus. Nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft zeigen daher auch eine gewisse Positionierungsangst, andere wiederum neigen zu Extrempositionen; gleichfalls ist so manches Mal auch eine fundamentale Hilflosigkeit zu verzeichnen. Denn die Herausforderung, der wir gegenüberstehen, ist derartig komplex, dass derjenige, der jetzt meint Patentrezepte anzubieten, das Problem möglicherweise noch gar nicht richtig erfasst und beschrieben hat. Die Krise Europas hängt – natürlich – auch mit dem Ohnmachtsgefühl zusammen, das viele Bürger beschleicht. Aber: Panik ist nie ein guter Ratgeber. Wir können daher nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern müssen den Verlust der Sicherheit in einer unüberschaubaren und entgrenzten Welt als große gemeinsame Aufgabe für Gesellschaft und Demokratie annehmen. Europa hat eine lange Tradition der Humanität, der Menschlichkeit, der Fähigkeit zum Dialog und zum Miteinander. Es mag sein, dass diese Werte nicht mehr allzu präsent sind. Wir müssen also uns daran erinnern, was es heißt, Europäer zu sein und daran, dass die Europäische Union eine politische und gesellschaftliche Wertegemeinschaft ist, die sich durch Offenheit und Vielfalt ausgezeichnet hat. Die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2012 unterstreicht dies sehr deutlich. Ein Europäer, der heute glaubt, er kann seine eigene Kultur abschotten, der ist an sich schon gar keiner. Wir stehen vor der grundsätzlichen Frage, wer wir überhaupt sein wollen, ob wir ein Land, ein Europa sein wollen, das sich abschottet, oder eine Gesellschaft, die sich öffnet und ihre vielfach propagierte Offenheit auch tatsächlich lebt. Gefragt ist ein neuer europäischer Humanismus.
Im Sinne von Kant und seiner Idee des guten Willens und im Verständnis von Hannah Arendts Pluralitätsgedanken bin ich der festen Überzeugung, dass man die Zukunft gestalten und besser machen kann als die Gegenwart. Der Lyriker Ferdinand Freiligrath hat das in seinem bekannten politischen Gedicht „Trotz alledem!“ ganz treffend ausgedrückt: „Nur, was zerfällt, vertretet ihr! / Seid Kasten nur, trotz alledem! / Wir sind das Volk, die Menschheit wir, / sind ewig drum, trotz alledem! / Trotz alledem und alledem: / So kommt denn an, trotz alledem! / Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – / Unser die Welt trotz alledem!“