Der Philosoph Hans Jonas forderte einst: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Mit diesem ethischen Imperativ ist der Anspruch an das Handeln der Ingenieurinnen und Ingenieure sehr treffend formuliert. Bisher kam die Technikethik als Reflexion über das Verhalten des Menschen meist zu spät. Zu oft fragte man, was wir dürfen, nachdem wir es konnten. Wir sollten aber eigentlich wissen, was wir dürfen, bevor wir es können. Ethik darf also keine Krisenreflexion a posteriori, sprich: im Nachgang sein, sondern muss nach dem Jonas’schen Prinzip Verantwortung eine Präventivethik sein.
Aber sind die Ingenieure auch für unabsehbare Nebenfolgen ihrer Arbeit verantwortlich? Vielleicht, weil sie nicht alles so genau wussten? Darf man eventuelles Nichtwissen überhaupt moralisieren? Wobei: Wissen oder Nichtwissen: Solche Unterscheidungen sind bekanntlich oft nicht ganz eindeutig, denn die alltägliche Komplexität widerspricht klaren Grenzziehungen. Vor allem in tagesaktuellen Entscheidungen werden Ja und Nein, Pro und Kontra sehr schnell fluide – ein Ja zur Energiewende oder Nachhaltigkeit kann dann durchaus auch zum „Ja, aber im Moment doch lieber ein Kohle- oder Atomkraftwerk“ werden.
Dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Das Leben wird nur rückwärts verstanden und muss vorwärts gelebt werden.“ Eine mögliche Lösung liegt also beispielsweise im Perspektivwechsel, im Idealfall basierend auf reflektierten Beobachtungen von Ja und Nein, oder auch von Gut und Böse. Die Positionierung „Gut“ legt mitunter auch sehr emotional und bei weitem nicht immer faktenbasiert fest, welche Meinung, welche Stimmung, welche Welt präferiert wird – im Gegensatz zu „Böse“, in das alles andere hineingepackt wird, was nicht ins momentane „gute“ Weltbild passt. Dieses moralische Spannungsfeld finden wir überall, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Immer wird dabei ein klares „Wir versus die anderen“ produziert und propagiert.
In Zeiten, in denen sich die gesellschaftlichen Gräben weiter vertiefen und ein striktes entweder-oder das Denken beherrscht, ist Hegels Philosophie des Sowohl-als-auch so aktuell wie nie zuvor. Die meisten von uns neigen dazu, genau diese binäre, klassische Logik wieder und wieder zu reproduzieren. Entweder ist dies wahr oder jenes. Beides kann nicht sein. Das widerspricht dem, was wir über viele Jahre an logischem Denkvermögen aufgebaut haben. So etwas hat über die Sozialisierung unseres Denkens hinaus natürlich auch Ursachen, die in der uns umgebenden Welt liegen.
In Zukunft wird es daher von immer größerer Bedeutung sein, genau diese Grenzen zu überwinden und so die Voraussetzung zur Erweiterung und Gestaltung eigener Horizonte zu schaffen. Infolge der verschiedenen Wahrheitsgehalte des entweder-oder stehen wir nun vor der Herausforderung, im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, wie es darum bestellt ist. Denn unsere Einschätzung, ob etwas entweder richtig oder falsch, gut oder böse ist, ob wir entweder dies oder das tun sollten, kann erhebliche Konsequenzen haben für den Erfolg unseres Handelns. Dies gilt auch und gerade im Zusammenhang mit den vielfältigen Veränderungs-, Lern- und Entwicklungsprozessen, die uns im täglichen Leben wieder und wieder begegnen.
Wir leben in einer Zeit, in der die erfolgreiche Zusammenarbeit von Menschen und Technologie zentral wird. Um dies verantwortungsvoll zu erreichen, können wir beispielsweise Technologie als einen Teil unserer Gesellschaft ansehen und akzeptieren. Wir sind also eine Art technosoziale Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Technologie und sozialen Systemen verwischen.
Der Weg der technischen Evolution ist irreversibel und kann nicht zurückführen zur reinen Natur im Sinne von Rousseau. Der Technikphilosoph Hans Sachse vermerkte 1972 dazu: „Wer erklärt, wir sollten jemals ohne die Vorteile leben, welche die moderne Technik uns gebracht hat, ist ein Narr. Wer aber meint, die technisch-wissenschaftliche Rationalität mache das Ganze unseres Daseins aus, ist zwar noch ein Mensch, aber als dessen Karikatur“.
Wer Zukunftstechnologien entwickelt, muss demnach Verantwortung für Mensch und Umwelt übernehmen. Mehr und mehr gewöhnen wir uns daran, dass sich unsere physische und gesellschaftliche Welt durch Technik, durch Technologie verändern lässt und wir kaum noch in allen Details genau erfassen können, was wir eigentlich tun. Künstliche Intelligenz steht aktuell als beispielhaftes Synonym dafür.
Im Diskurs über aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen müssen also auch wir Ingenieure Stellung beziehen. Aber wie werden wir diesem Anspruch gerecht? Dies kann hier in aller Kürze sicherlich nicht vollständig und umfassend beantwortet werden. Diese Aufgabe, dieser ethische Anspruch wird aber eine der Kerndisziplinen des Zukunftshandelns werden – das gilt auch und gerade für Ingenieurinnen und Ingenieure.
Messen lassen müssen wir uns aber letztlich an unseren eigenen Handlungen, nicht an hehren Gedanken. Am Ende kommt es darauf an, dass wir eine wie auch immer geartete Zukunft auf diesem Planeten zwar nicht planen können, aber durch unsere Lebensweise auch nicht verhindern oder gar unmöglich machen dürfen. Ein aktuelles Stichwort dazu ist der Klimawandel. Die Probleme sind zwar groß, aber nicht unlösbar.
„Optimismus ist Pflicht“, schrieb der Philosoph Karl Popper; der Dramatiker Heiner Müller meinte hingegen, Optimismus sei nur ein Mangel an Information. Die Menschen schwankten wohl schon immer zwischen Hoffen und Bangen, derzeit scheint das Bangen die Oberhand zu haben.
Diese Situation, dieses Spannungsfeld aufzulösen, das ist die große Herausforderung, vor der wir alle stehen. Statt aber jetzt die Welt mit Ernst Blochs Prinzip Hoffnung untergehen zu sehen, sollte es doch vielmehr unsere Verantwortung um die Zukunft der Welt sein, die wir debattieren. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, dass wir uns zunächst einfach auf das besinnen, was wir können. Ganz im Sinne von Immanuel Kant: „Sapere aude – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“