In meinem letzten Editorial brachte ich am Schluss zum Ausdruck, dass uns manchmal ein klein wenig mehr Pragmatismus und Flexibilität guttäte, anstelle der deutschen Gründlichkeit. Diesen Gedanken etwas näher auszuführen ist Thema des jetzigen Leitartikels.
Ganz generell steht Pragmatismus für einen Vorrang von Praxis vor rein theoretischen Überlegungen. Ein Pragmatiker denkt und handelt ziel- und lösungsorientiert; eine Eigenschaft, die natürlich auch einem Praktiker zugeschrieben werden kann, gleichwohl hier keine Verwechslung oder gar Gleichstellung erfolgen sollte. Pragmatismus kann also durchaus auch eine Geisteshaltung sein, die sich etwas weniger auf Gründlichkeit, dagegen mehr auf Intuition stützt. Damit wird Pragmatismus zu einem gewissen Teil auch zu einer Frage der Risikoneigung. Überzeugungen, gefühlte Situationen und Erfahrungen führen so zu einem vermeintlich pragmatischem und damit vor allem schnellem Entscheidungsverhalten. Der bekannte Journalist und Fernsehmoderator Robert Lembke formuliert es leicht humoristisch so: „Bei Pragmatikern richten sich Ansichten und Absichten nach den Aussichten.“ Gerade in Zeiten von Facebook, Twitter und Co. zeigt es sich überdies immer wieder, dass schnelle und damit auch populäre Entscheidungen zumeist mit der Quantität an Informationen zusammenhängen und nicht unbedingt der Qualität derselben. Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass manche interessengesteuerte Akteure die öffentliche Wahrnehmung nicht selten durch eine geschickte Aufmerksamkeitsökonomie zu manipulieren versuchen. Die Antwort liegt wahrscheinlich in dem, was der Psychologe Daniel Kahneman „Prospect Theory“ nennt und in seinem Spiegel-Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ verarbeitet hat. Einer der wichtigen Schlüsse, die er zieht: Nicht immer ist sorgfältiges Durchdenken auch ein Hinweis auf mangelnde Entschlossenheit.
Pragmatisches Handeln ist also stets zielorientiert und auf den zu erreichenden Nutzen ausgerichtet. Dabei wird zumeist von vorgegebenen Regeln oder Methoden abgewichen. Das Problem: Je größer das Perfektionsstreben, umso geringer die Anpassungs- und damit die Kompromissfähigkeit. Das Gegenkonzept zu Perfektionismus kann jetzt natürlich nicht im Laissez-faire liegen. Schließlich sind Qualitätsversprechen und -ansprüche mitausschlaggebend für den Faktor Vertrauen. In Zeiten hoher Ungewissheit sollten wir deshalb unsere Erwartungen wechselseitig pragmatisch anpassen, schließlich werden wir, auch als Ingenieurinnen und Ingenieure, viele weitere Herausforderungen – vom digitalen Wandel über die Energiewende bis zur Klimakrise – nicht mit Perfektionismus allein lösen. Es gilt daher immer, einen Weg zu finden zwischen einem „Vor-Urteil“ und dem „Nach-Denken“. Notwendig dafür ist einerseits eine flexible Denkweise, andererseits eine pragmatische Gründlichkeit. Als Geodätinnen und Geodäten gehört das Erfassen, Analysieren und Interpretieren vielfältiger Informationen zu unseren beruflichen Grundkompetenzen. Das stellt möglicherweise zunächst eine Nähe zu den Perfektionisten her. Andererseits kennen und nutzen wir aus unserer fachlichen Ausbildung auch das Fach Ausgleichungsrechnung, befassen uns mit Optimierungsmethoden und wissen mit großen Datenmengen umzugehen. So gesehen sind wir zumindest von unserer beruflichen Genese her sehr gut aufgestellt. Und wenn es klare Evidenzen gibt, beispielsweise für bevorstehende Gefahren, sollte ohnehin unbedingt auf (uns) Fachleute gehört werden. Es kann (besser: sollte!) dann durchaus auch mal angebracht sein, aufgrund fundierter wissenschaftlicher Expertisen gegen den Strom einer (vermeintlichen) Mehrheitsmeinung zu schwimmen. Natürlich muss man sich immer auch die Frage stellen bzw. gefallen lassen, ob es gewisser Korrekturen und Nachjustierungen bedarf, denn bei komplexen Herausforderungen gibt es nun einmal nicht immer DIE triviale Lösung. Transparenz und offene Kommunikation ist in diesem Kontext von außerordentlicher Bedeutung, klandestines Agieren absolut kontraproduktiv. Das gilt natürlich insbesondere in Zeiten, in denen schnelles Handeln unbedingt nötig ist und gleichzeitig viele Informationen erst nach und nach gesammelt und interpretiert werden können.
Jeder, der ein höheres Ziel erreichen und dabei möglichst viele Menschen einbeziehen möchte oder muss, kommt am pragmatischen Denken und Handeln nicht vorbei. So gesehen ist Pragmatismus durchaus eine positive Charaktereigenschaft. „Nicht der Wissende, sondern der Handelnde ist glücklich“, soll ja auch der Philosoph Seneca einst festgestellt haben. Man darf dabei vor lauter flexibler Dynamik eben nur nicht das eigentliche Ziel aus den Augen verlieren, meint ganz pragmatisch Ihr
Wilfried Grunau